Nach fast 40 Jahren im Dienst der Evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt, die letzten 15 Jahre als Pfarrer im Pfarramt für Industrie und Wirtschaft, ist Martin Dürr in Pension gegangen. Damit kommt nicht nur seine Arbeit, sondern das ganze Pfarramt an ein Ende. «Ich bin zum Schluss gekommen, dass es eine runde Sache ist und ich jetzt abschliessen kann», sagt Martin Dürr. Er selbst engagiert sich als Vertrauensperson auf dem kleinen «Campus» Oekolampad und pflegt weiterhin Kontakte zu Wirtschaft und Industrie: «Weiterhin suchen Menschen mit mir das Gespräch; wenn es geht, mache ich das sehr gern.»
Ende September bist Du pensioniert worden. Damit geht auch das Pfarramt für Industrie und Wirtschaft, das Piwi, zu Ende. Was heisst das für Dich?
Zum Glück konnte ich mich mehrere Jahre lang darauf vorbereiten. Vor sieben Jahren hat die «bz» ein Interview mit Lukas Kundert publiziert. Auf die Frage, wo die Kirche konkret einsparen werde, nannte er das Pfarramt für Industrie und Wirtschaft. Natürlich bedaure ich das. Aber ich kenne die finanzielle Lage der Evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt und ich hatte ja auch reichlich Zeit, mich damit abzufinden.
Wie bist Du mit dem Entscheid umgegangen?
Ich habe mich damals dazu entschieden, die Zeit dafür zu nutzen, sinnvolle Arbeit zu leisten. Deshalb war am Ende kein Abschiedsschmerz mehr übrig. Ich habe schon Anfang Jahr mein Büro verkleinert, weil Dagmar Vergeat früher als geplant aufhörte. Ich habe viel verschenkt oder entsorgt, das war ein langsamer Prozess, den ich für mich alleine gemacht habe. Wir haben uns schrittweise von vielem getrennt, das noch meine Vorgänger hinterlassen haben. Jetzt sind am Ende nur noch zwei Bananenkisten Material ins Baselbiet gezügelt worden. Da soll in neuer Form etwas weitergehen. Ich habe an einem Samstag einmal eine Bücherstand gemacht und meine Bücher verschenkt. Viele der «Kunden» hatten riesige Freude, dass sie ein Buch fanden, das ihnen zusprach, das hat meinen Trennungsschmerz gelindert.
Aber es bleibt ein Abschied?
In den letzten Wochen hat sich vieles noch einmal gewendet. Mein langjähriger Gemeindekollege Thomas Müry ist überraschend verstorben und ich hielt die Abdankung. Dann musste ich für eine ehemalige Flight Attendant der Crossair eine Abdankung halten. Das hat mich nachdenklich gemacht. Ich habe deshalb nicht nur die letzten 15 Jahre angeschaut, sondern mein ganzes Berufsleben, die fast 40 Jahre in der Kirche. Ich bin zum Schluss gekommen, dass es eine runde Sache ist und ich jetzt abschliessen kann.
Du bist vor 39 Jahren Pfarrer geworden. Warum?
Ich hatte nicht vor, Pfarrer zu werden. Ich studierte zunächst Englisch, Geschichte und Musik und wollte eigentlich Lehrer werden. Ich hatte eine tolle Primarlehrerin und «Lehrer» war eine gute Antwort war auf die Frage, was ich einmal werden will. Zu Geschichte und Englisch hatte ich eine gute Beziehung und Musik wollte ich dazunehmen, weil ich dachte, dass ich einmal eine Karriere in der Popmusik machen könnte. Das hat dann nicht wirklich funktioniert. Im Studium habe ich gemerkt, dass ich entweder eine neue Motivation dafür brauche oder alles neu durchdenken muss.
Wie bist Du auf Pfarrer gekommen?
Als ich 13 oder 14 Jahre alt war, wurde mein Vater, der bei der damaligen Ciba arbeitete, nach England versetzt. Die Familie blieb in Basel. Ich bin über mehrere Jahre deshalb de facto vaterlos aufgewachsen. Kurz nach der Konfirmation war ich befreundet mit einem der Söhne von Pfarrer Theophil Schubert. Bei den Schuberts habe ich ein offenes Haus erlebt, da wurde am Nachmittag Tee getrunken, auch Vater Schubert war dabei. Mindestens in meiner Phantasie wurden die Schuberts zu meiner Familie. Ich habe mich quasi selbst adoptiert. Bei Schuberts kriegte ich Einblick in die Arbeit eines Gemeindepfarrers. Diese beiden Bilder, das offene Haus, in dem man mit Menschen in allen Lebenslagen in Kontakt kommt, und die Arbeit des Pfarrers, das blieb mir hängen. Das alles kam mir wieder in den Sinn, als ich mir überlegte, was ich werden will. Ich beschloss also, Pfarrer zu werden.
Du hast zur Theologie gewechselt?
Ja, dafür musste ich natürlich Theologie studieren und Althebräisch und Griechisch lernen. Ich fragte einige Freunde, was sie meinen und zu meiner Überraschung sagten sie, dass sie mich als Pfarrer sehen. Jemand sagte zwar, dass ich im Theologiestudium meinen Glauben verlieren werde, das habe ich aber nie so erlebt. Das Studium warf zwar viele neue Fragen auf, aber das war spannend. Daneben habe ich schon bald im Konfirmandenunterricht in Riehen und später in Basel geholfen. Da bestand also immer auch ein Bezug zur Praxis. Das Vikariat absolvierte ich in Binningen. Danach ging ich wieder zu Theophil Schubert, der war inzwischen Kirchenratspräsident. Ich wollte mich bei ihm um eine Stelle in einer Gemeinde bewerben. Er hatte aber anderes mit mir im Sinn.
Nämlich?
Er sah mich als Seelsorger in der Spital- und Gefängnisseelsorge. So habe ich mit 26 als frisch ausgebildeter Pfarrer im Paraplegikerzentrum, in der Milchsuppe und in den Gefängnissen gearbeitet. Ich wollte da auch herausfinden, was von dem, was ich im Studium gelernt hatte, in Extremsituationen noch gilt. Ich hatte mit Menschen zu tun, die durch unterschiedlichste Behinderungen beeinträchtigt waren und mit Menschen, die etwas so Gravierendes angestellt hatten, dass sie im Gefängnis sassen. Da habe ich viel über das Leben und die Seelsorge gelernt. Das kann man nicht aus Büchern lernen. Das kann nur aus der Lebenserfahrung kommen.
Wann hast Du ins Gemeindepfarramt gewechselt?
Nach fünf Jahren kam der Wunsch, auch einmal mit anderen zusammenzuarbeiten und Menschen kontinuierlicher zu betreuen. Ich überlegte mir sogar einen Wechsel in eine andere Stadt. Das bekam ein Freund von uns mit, deshalb fragte mich die Pfarrwahlkommission der Johanneskirche an. So übernahm ich die Pfarrstelle im Johannes und arbeitete 18 Jahre als Gemeindepfarrer. Ich war sehr gerne Gemeindepfarrer.
Warum hast Du aufgehört?
Zu Beginn war ich der junge Pfarrer neben viel älteren Pfarrpersonen. Ich war auch nach 18 Jahren immer noch der jüngste im Team. Als ich auf 50 zuging, fragte ich mich, ob ich das weitermachen will. Einen Wechsel in eine Landgemeinde konnte ich mir nicht vorstellen und meine Kinder und meine Frau wollten nicht aus Basel wegziehen. An einer Tagung sagte mir Martin Stingelin, der damals Industriepfarrer war, dass er sich beworben habe für das Kirchenratspräsidium in Baselland. Da spitzte ich meine Ohren und ich konnte ja auch meine Erfahrung bei Crossair und Swiss einbringen.
Wie bist Du zu Erfahrungen mit der Crossair gekommen?
Ich hatte eine 75% Stelle als Gemeindepfarrer. Nach dem ersten Absturz einer Crossair-Maschine kam ich ins Care-Team der Crossair. Danach wurde ich immer wieder für seelsorgerische Aufgaben angefragt, auch von der späteren Swiss. Es war eine interessante Ergänzung zur Arbeit in der Gemeinde, in eine ganz andere Welt einzutauchen. Ich konnte so erste Erfahrungen als Pfarrer in der Wirtschaft sammeln.
Du hast das Pfarramt für Industrie und Wirtschaft 15 Jahre lang geleitet. Wenn Du auf diese Zeit zurückschaust – was ist Dir gelungen?
Ich glaube, das Wichtigste war und ist das Netzwerk, das ich von meinen Vorgängern übernommen habe und an dem ich selbst weitergeknüpft habe. Ich konnte viele Manager überzeugen, dass das Pfarramt nichts Missionarisches ist und wir auch sehr offen sind. Ich brachte mich ins Spiel für den Fall, dass einmal etwas passiert. Das ging manchmal sehr schnell. Ich erinnere mich an einen plötzlichen Todesfall in einem Unternehmen: Die Mitarbeitenden wollten auch in der Firma Abschied nehmen. Ich hatte mich kurz zuvor vorgestellt, also griff man auf mich zurück. Auf diese Weise kamen Kontakte und seelsorgerliche Arbeit zusammen.
Du bist also von Dir aus auf die Menschen in den Unternehmen zugegangen?
Ja. Aus Begegnungen entstanden Gespräche, daraus entstanden Engagements für Anlässe, Auftritte oder Hilferufe. Kaum je hat mich jemand über das Internet gefunden. Ich habe von Begegnungen und von der Mund-zu-Mund-Propaganda gelebt. Ich habe viele Menschen bei Gesprächsrunden und Podien erlebt und Kontakte geknüpft. Das habe ich auch bis zum Schluss und darüber hinaus gemacht. Weiterhin suchen Menschen mit mir das Gespräch; wenn es geht, mache ich das sehr gern.
Veranstaltungen machen auch andere. Was war das Besondere am Pfarramt für Industrie und Arbeit?
Ich glaube, wir konnten Räume und neue Zugänge eröffnen, weil wir selbst keine Agenda hatten. Wir haben zum Beispiel Veranstaltungen mit Personalvertretungen gemacht und dazu auch die Arbeitgebervertreter eingeladen. Beide Seiten schätzen es, ausserhalb von Lohnverhandlungen miteinander sprechen zu können. Oder die Arbeit in der Sozialkonferenz von Basel, wo man über die Probleme von Armutsbetroffenen redet mit den Zuständigen in den Ämtern, der Wirtschaft, mit NGOs und mit Armutsbetroffenen selbst. Das hat immer den Unterschied gemacht: Dass da die Armutsbetroffenen mit am Tisch gesessen haben. Das Pfarramt für Industrie hat immer wieder für Verbindungen sorgen können.
Spielte es eine Rolle, dass Du der Vertreter der Kirche warst?
Ich habe es auch immer als Privileg erlebt, dass ich als Vertreter der Kantonalkirche eingeladen worden bin zu Veranstaltungen, sei es als Gast, sei es als Beitragender. Aus solchen Kontakten ist oft mehr geworden. Im Unternehmercampus des Gewerbeverbands habe ich zum Beispiel den Auftrag erhalten, einen Crashkurs in Wirtschaftsethik zu machen anhand von realitätsnahen Beispielen. Das Vertrauen, das mir dabei entgegenkam, das widersprach unserer innerkirchlichen Wahrnehmung. Da draussen gibt es der Kirche gegenüber immer noch einen Vertrauensvorschuss. Das ermöglicht ganz vieles.
Und wo hast Du in den 15 Jahren auf Granit gebissen?
Ich habe mir nie Illusionen gemacht. Ich war eine Zeit lang im Tandem mit einem katholischen Gegenüber unterwegs, die letzten beiden Jahre allein. Als ein einzelner Mensch an einem grossen Wirtschaftsstandort kann man nie alle erreichen. Ich konnte keine Stellen vermitteln und keine Massenentlassungen verhindern. Das kam auch zu Enttäuschungen, auf beiden Seiten übriges. Es brauchte Zeit, Fuss zu fassen und die Kontakte zu knüpfen. In der Arbeitswelt gibt es sehr viele Fluktuationen. Zuständige wechseln das Unternehmen, steigen auf oder aus. Manchmal wurde ich dem Nachfolger vorgestellt, manchmal musste ich wieder von vorne beginnen, sonst versandete der Kontakt.
Was war der zentrale Auftrag des Pfarramts?
Als das Pfarramt Ende der 60er Jahre gegründet wurde, hiess es im Gründungsdokument: Das Pfarramt setzt Zeichen der Liebe in der Arbeitswelt. Für mich war das Wort «Zeichen» wichtig. Als einzelner Mensch kann ich nicht die ganze Arbeitswelt verändern, aber ich kann Zeichen setzen. Ich konnte hoffentlich den einen oder anderen Anstoss geben, aber man muss lernen, mit der eigenen Begrenztheit zu leben.
Das Pfarramt für Industrie und Arbeit war bikantonal und ökumenisch. War das nicht schwierig?
Ja, die Trägerschaft bestand aus den vier Kantonalkirchen, dazu kam noch das Bistum. Das ging lange gut. Dann kam es zu einem Konflikt auf der katholischen Seite und es zeigte sich, dass das Konstrukt damit nicht umgehen konnte. Als ökumenisches Pfarramt war das Piwi auf Vertrauen aufgebaut. Anders geht es nicht und als es zum Konflikt kam, wurde es über die Kantons- und Konfessionsgrenzen hinaus schwierig. Ich habe erst gemerkt, wieviel Energie der Konflikt absorbierte, als er beendet war.
Wie ging es weiter?
Delphine Conzelmann, die als reformierte Doktorandin auf katholischer Seite arbeitete, hat einen wunderbaren Job gemacht. Ich hätte mir vorstellen können, dass sie mit neuen Energien und mit neuen Ideen das Pfarramt auf eine neue Basis stellen könnte. Dann hat sie an die Uni gewechselt, ihre Stelle wurde nicht mehr besetzt und es wurde mir definitiv klar, dass mit meiner Pensionierung das Amt zu Ende geht und ich loslassen muss.
Im Kanton Basel-Stadt zahlen Unternehmen keine Kirchensteuer. Trotzdem hatten sie ein eigenes Pfarramt?
Ja, dass die Unternehmen keine Steuern zahlen, ändert nichts an den Bedürfnissen ihrer Mitarbeiter. Im Kanton Basel-Landschaft gibt es die Kirchensteuer für juristische Personen, deshalb hat das Baselland auch etwas mehr als die Hälfte meines Lohnes übernommen.
Und was machst Du jetzt?
Wir leben schon seit 14 Jahren auf dem kleinen «Campus» Oekolampad. Als das Gemeindehaus an die Wibrandis-Stiftung verkauft wurde, gingen wir quasi als Inhalt mit an den neuen Eigentümer. Zu Beginn hiess es, dass wir ausziehen müssen. Dann kam die Idee auf, dass ich meine Erfahrung als Gemeinde- und Industriepfarrer einbringen und eine Vertrauensperson für Konflikte sein könnte, eine Art Erstanlaufstelle. Im Februar sind alle eingezogen, da gibt es jetzt erste Themen, die man miteinander bereden muss.
Was machst Du sonst noch?
Alle Anfragen für regelmässige Engagements sage ich ab. Einzelne Vorträge oder Podien nehme ich gerne wahr, aber keine Vereinsvorstände und ähnliches. Ganz frisch ist die Idee, dass ich für den Novartis-Pavillon «Wonders of Medicine»˚als Mitglied einer externen Begleitgruppe Inputs geben könnte. Das würde ich sehr gerne machen. Ich begleite sehr gerne weiter die Industrienacht. Das waren ja auch die schönen Seiten der Arbeit. Und dann habe ich auch noch Enkel und möchte an meine Pianistenkarriere anknüpfen und eine Band gründen. Und ich möchte Italienisch lernen. Also eigentlich habe ich weiterhin viel zu tun.
Zum Glück konnte ich mich mehrere Jahre lang darauf vorbereiten. Vor sieben Jahren hat die «bz» ein Interview mit Lukas Kundert publiziert. Auf die Frage, wo die Kirche konkret einsparen werde, nannte er das Pfarramt für Industrie und Wirtschaft. Natürlich bedaure ich das. Aber ich kenne die finanzielle Lage der Evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt und ich hatte ja auch reichlich Zeit, mich damit abzufinden.
Wie bist Du mit dem Entscheid umgegangen?
Ich habe mich damals dazu entschieden, die Zeit dafür zu nutzen, sinnvolle Arbeit zu leisten. Deshalb war am Ende kein Abschiedsschmerz mehr übrig. Ich habe schon Anfang Jahr mein Büro verkleinert, weil Dagmar Vergeat früher als geplant aufhörte. Ich habe viel verschenkt oder entsorgt, das war ein langsamer Prozess, den ich für mich alleine gemacht habe. Wir haben uns schrittweise von vielem getrennt, das noch meine Vorgänger hinterlassen haben. Jetzt sind am Ende nur noch zwei Bananenkisten Material ins Baselbiet gezügelt worden. Da soll in neuer Form etwas weitergehen. Ich habe an einem Samstag einmal eine Bücherstand gemacht und meine Bücher verschenkt. Viele der «Kunden» hatten riesige Freude, dass sie ein Buch fanden, das ihnen zusprach, das hat meinen Trennungsschmerz gelindert.
Aber es bleibt ein Abschied?
In den letzten Wochen hat sich vieles noch einmal gewendet. Mein langjähriger Gemeindekollege Thomas Müry ist überraschend verstorben und ich hielt die Abdankung. Dann musste ich für eine ehemalige Flight Attendant der Crossair eine Abdankung halten. Das hat mich nachdenklich gemacht. Ich habe deshalb nicht nur die letzten 15 Jahre angeschaut, sondern mein ganzes Berufsleben, die fast 40 Jahre in der Kirche. Ich bin zum Schluss gekommen, dass es eine runde Sache ist und ich jetzt abschliessen kann.
Du bist vor 39 Jahren Pfarrer geworden. Warum?
Ich hatte nicht vor, Pfarrer zu werden. Ich studierte zunächst Englisch, Geschichte und Musik und wollte eigentlich Lehrer werden. Ich hatte eine tolle Primarlehrerin und «Lehrer» war eine gute Antwort war auf die Frage, was ich einmal werden will. Zu Geschichte und Englisch hatte ich eine gute Beziehung und Musik wollte ich dazunehmen, weil ich dachte, dass ich einmal eine Karriere in der Popmusik machen könnte. Das hat dann nicht wirklich funktioniert. Im Studium habe ich gemerkt, dass ich entweder eine neue Motivation dafür brauche oder alles neu durchdenken muss.
Wie bist Du auf Pfarrer gekommen?
Als ich 13 oder 14 Jahre alt war, wurde mein Vater, der bei der damaligen Ciba arbeitete, nach England versetzt. Die Familie blieb in Basel. Ich bin über mehrere Jahre deshalb de facto vaterlos aufgewachsen. Kurz nach der Konfirmation war ich befreundet mit einem der Söhne von Pfarrer Theophil Schubert. Bei den Schuberts habe ich ein offenes Haus erlebt, da wurde am Nachmittag Tee getrunken, auch Vater Schubert war dabei. Mindestens in meiner Phantasie wurden die Schuberts zu meiner Familie. Ich habe mich quasi selbst adoptiert. Bei Schuberts kriegte ich Einblick in die Arbeit eines Gemeindepfarrers. Diese beiden Bilder, das offene Haus, in dem man mit Menschen in allen Lebenslagen in Kontakt kommt, und die Arbeit des Pfarrers, das blieb mir hängen. Das alles kam mir wieder in den Sinn, als ich mir überlegte, was ich werden will. Ich beschloss also, Pfarrer zu werden.
Du hast zur Theologie gewechselt?
Ja, dafür musste ich natürlich Theologie studieren und Althebräisch und Griechisch lernen. Ich fragte einige Freunde, was sie meinen und zu meiner Überraschung sagten sie, dass sie mich als Pfarrer sehen. Jemand sagte zwar, dass ich im Theologiestudium meinen Glauben verlieren werde, das habe ich aber nie so erlebt. Das Studium warf zwar viele neue Fragen auf, aber das war spannend. Daneben habe ich schon bald im Konfirmandenunterricht in Riehen und später in Basel geholfen. Da bestand also immer auch ein Bezug zur Praxis. Das Vikariat absolvierte ich in Binningen. Danach ging ich wieder zu Theophil Schubert, der war inzwischen Kirchenratspräsident. Ich wollte mich bei ihm um eine Stelle in einer Gemeinde bewerben. Er hatte aber anderes mit mir im Sinn.
Nämlich?
Er sah mich als Seelsorger in der Spital- und Gefängnisseelsorge. So habe ich mit 26 als frisch ausgebildeter Pfarrer im Paraplegikerzentrum, in der Milchsuppe und in den Gefängnissen gearbeitet. Ich wollte da auch herausfinden, was von dem, was ich im Studium gelernt hatte, in Extremsituationen noch gilt. Ich hatte mit Menschen zu tun, die durch unterschiedlichste Behinderungen beeinträchtigt waren und mit Menschen, die etwas so Gravierendes angestellt hatten, dass sie im Gefängnis sassen. Da habe ich viel über das Leben und die Seelsorge gelernt. Das kann man nicht aus Büchern lernen. Das kann nur aus der Lebenserfahrung kommen.
Wann hast Du ins Gemeindepfarramt gewechselt?
Nach fünf Jahren kam der Wunsch, auch einmal mit anderen zusammenzuarbeiten und Menschen kontinuierlicher zu betreuen. Ich überlegte mir sogar einen Wechsel in eine andere Stadt. Das bekam ein Freund von uns mit, deshalb fragte mich die Pfarrwahlkommission der Johanneskirche an. So übernahm ich die Pfarrstelle im Johannes und arbeitete 18 Jahre als Gemeindepfarrer. Ich war sehr gerne Gemeindepfarrer.
Warum hast Du aufgehört?
Zu Beginn war ich der junge Pfarrer neben viel älteren Pfarrpersonen. Ich war auch nach 18 Jahren immer noch der jüngste im Team. Als ich auf 50 zuging, fragte ich mich, ob ich das weitermachen will. Einen Wechsel in eine Landgemeinde konnte ich mir nicht vorstellen und meine Kinder und meine Frau wollten nicht aus Basel wegziehen. An einer Tagung sagte mir Martin Stingelin, der damals Industriepfarrer war, dass er sich beworben habe für das Kirchenratspräsidium in Baselland. Da spitzte ich meine Ohren und ich konnte ja auch meine Erfahrung bei Crossair und Swiss einbringen.
Wie bist Du zu Erfahrungen mit der Crossair gekommen?
Ich hatte eine 75% Stelle als Gemeindepfarrer. Nach dem ersten Absturz einer Crossair-Maschine kam ich ins Care-Team der Crossair. Danach wurde ich immer wieder für seelsorgerische Aufgaben angefragt, auch von der späteren Swiss. Es war eine interessante Ergänzung zur Arbeit in der Gemeinde, in eine ganz andere Welt einzutauchen. Ich konnte so erste Erfahrungen als Pfarrer in der Wirtschaft sammeln.
Du hast das Pfarramt für Industrie und Wirtschaft 15 Jahre lang geleitet. Wenn Du auf diese Zeit zurückschaust – was ist Dir gelungen?
Ich glaube, das Wichtigste war und ist das Netzwerk, das ich von meinen Vorgängern übernommen habe und an dem ich selbst weitergeknüpft habe. Ich konnte viele Manager überzeugen, dass das Pfarramt nichts Missionarisches ist und wir auch sehr offen sind. Ich brachte mich ins Spiel für den Fall, dass einmal etwas passiert. Das ging manchmal sehr schnell. Ich erinnere mich an einen plötzlichen Todesfall in einem Unternehmen: Die Mitarbeitenden wollten auch in der Firma Abschied nehmen. Ich hatte mich kurz zuvor vorgestellt, also griff man auf mich zurück. Auf diese Weise kamen Kontakte und seelsorgerliche Arbeit zusammen.
Du bist also von Dir aus auf die Menschen in den Unternehmen zugegangen?
Ja. Aus Begegnungen entstanden Gespräche, daraus entstanden Engagements für Anlässe, Auftritte oder Hilferufe. Kaum je hat mich jemand über das Internet gefunden. Ich habe von Begegnungen und von der Mund-zu-Mund-Propaganda gelebt. Ich habe viele Menschen bei Gesprächsrunden und Podien erlebt und Kontakte geknüpft. Das habe ich auch bis zum Schluss und darüber hinaus gemacht. Weiterhin suchen Menschen mit mir das Gespräch; wenn es geht, mache ich das sehr gern.
Veranstaltungen machen auch andere. Was war das Besondere am Pfarramt für Industrie und Arbeit?
Ich glaube, wir konnten Räume und neue Zugänge eröffnen, weil wir selbst keine Agenda hatten. Wir haben zum Beispiel Veranstaltungen mit Personalvertretungen gemacht und dazu auch die Arbeitgebervertreter eingeladen. Beide Seiten schätzen es, ausserhalb von Lohnverhandlungen miteinander sprechen zu können. Oder die Arbeit in der Sozialkonferenz von Basel, wo man über die Probleme von Armutsbetroffenen redet mit den Zuständigen in den Ämtern, der Wirtschaft, mit NGOs und mit Armutsbetroffenen selbst. Das hat immer den Unterschied gemacht: Dass da die Armutsbetroffenen mit am Tisch gesessen haben. Das Pfarramt für Industrie hat immer wieder für Verbindungen sorgen können.
Spielte es eine Rolle, dass Du der Vertreter der Kirche warst?
Ich habe es auch immer als Privileg erlebt, dass ich als Vertreter der Kantonalkirche eingeladen worden bin zu Veranstaltungen, sei es als Gast, sei es als Beitragender. Aus solchen Kontakten ist oft mehr geworden. Im Unternehmercampus des Gewerbeverbands habe ich zum Beispiel den Auftrag erhalten, einen Crashkurs in Wirtschaftsethik zu machen anhand von realitätsnahen Beispielen. Das Vertrauen, das mir dabei entgegenkam, das widersprach unserer innerkirchlichen Wahrnehmung. Da draussen gibt es der Kirche gegenüber immer noch einen Vertrauensvorschuss. Das ermöglicht ganz vieles.
Und wo hast Du in den 15 Jahren auf Granit gebissen?
Ich habe mir nie Illusionen gemacht. Ich war eine Zeit lang im Tandem mit einem katholischen Gegenüber unterwegs, die letzten beiden Jahre allein. Als ein einzelner Mensch an einem grossen Wirtschaftsstandort kann man nie alle erreichen. Ich konnte keine Stellen vermitteln und keine Massenentlassungen verhindern. Das kam auch zu Enttäuschungen, auf beiden Seiten übriges. Es brauchte Zeit, Fuss zu fassen und die Kontakte zu knüpfen. In der Arbeitswelt gibt es sehr viele Fluktuationen. Zuständige wechseln das Unternehmen, steigen auf oder aus. Manchmal wurde ich dem Nachfolger vorgestellt, manchmal musste ich wieder von vorne beginnen, sonst versandete der Kontakt.
Was war der zentrale Auftrag des Pfarramts?
Als das Pfarramt Ende der 60er Jahre gegründet wurde, hiess es im Gründungsdokument: Das Pfarramt setzt Zeichen der Liebe in der Arbeitswelt. Für mich war das Wort «Zeichen» wichtig. Als einzelner Mensch kann ich nicht die ganze Arbeitswelt verändern, aber ich kann Zeichen setzen. Ich konnte hoffentlich den einen oder anderen Anstoss geben, aber man muss lernen, mit der eigenen Begrenztheit zu leben.
Das Pfarramt für Industrie und Arbeit war bikantonal und ökumenisch. War das nicht schwierig?
Ja, die Trägerschaft bestand aus den vier Kantonalkirchen, dazu kam noch das Bistum. Das ging lange gut. Dann kam es zu einem Konflikt auf der katholischen Seite und es zeigte sich, dass das Konstrukt damit nicht umgehen konnte. Als ökumenisches Pfarramt war das Piwi auf Vertrauen aufgebaut. Anders geht es nicht und als es zum Konflikt kam, wurde es über die Kantons- und Konfessionsgrenzen hinaus schwierig. Ich habe erst gemerkt, wieviel Energie der Konflikt absorbierte, als er beendet war.
Wie ging es weiter?
Delphine Conzelmann, die als reformierte Doktorandin auf katholischer Seite arbeitete, hat einen wunderbaren Job gemacht. Ich hätte mir vorstellen können, dass sie mit neuen Energien und mit neuen Ideen das Pfarramt auf eine neue Basis stellen könnte. Dann hat sie an die Uni gewechselt, ihre Stelle wurde nicht mehr besetzt und es wurde mir definitiv klar, dass mit meiner Pensionierung das Amt zu Ende geht und ich loslassen muss.
Im Kanton Basel-Stadt zahlen Unternehmen keine Kirchensteuer. Trotzdem hatten sie ein eigenes Pfarramt?
Ja, dass die Unternehmen keine Steuern zahlen, ändert nichts an den Bedürfnissen ihrer Mitarbeiter. Im Kanton Basel-Landschaft gibt es die Kirchensteuer für juristische Personen, deshalb hat das Baselland auch etwas mehr als die Hälfte meines Lohnes übernommen.
Und was machst Du jetzt?
Wir leben schon seit 14 Jahren auf dem kleinen «Campus» Oekolampad. Als das Gemeindehaus an die Wibrandis-Stiftung verkauft wurde, gingen wir quasi als Inhalt mit an den neuen Eigentümer. Zu Beginn hiess es, dass wir ausziehen müssen. Dann kam die Idee auf, dass ich meine Erfahrung als Gemeinde- und Industriepfarrer einbringen und eine Vertrauensperson für Konflikte sein könnte, eine Art Erstanlaufstelle. Im Februar sind alle eingezogen, da gibt es jetzt erste Themen, die man miteinander bereden muss.
Was machst Du sonst noch?
Alle Anfragen für regelmässige Engagements sage ich ab. Einzelne Vorträge oder Podien nehme ich gerne wahr, aber keine Vereinsvorstände und ähnliches. Ganz frisch ist die Idee, dass ich für den Novartis-Pavillon «Wonders of Medicine»˚als Mitglied einer externen Begleitgruppe Inputs geben könnte. Das würde ich sehr gerne machen. Ich begleite sehr gerne weiter die Industrienacht. Das waren ja auch die schönen Seiten der Arbeit. Und dann habe ich auch noch Enkel und möchte an meine Pianistenkarriere anknüpfen und eine Band gründen. Und ich möchte Italienisch lernen. Also eigentlich habe ich weiterhin viel zu tun.