Pro Jahr behandeln im Universitätsspital Basel rund 8000 Mitarbeitende etwa 40'000 Patientinnen und Patienten. Für all diese Menschen sind nur gerade sechs Seelsorgerinnen und Seelsorger zuständig. Sie arbeiten seit Anfang Jahr nach einem Set von Indikationen.
In der Medizin sagt eine Indikation, wann eine bestimmte Untersuchung, ein Medikament oder eine Behandlung angezeigt ist. Eine medizinische Indikation begründet also, wann eine medizinische Behandlung angemessen oder notwendig ist. Indikationen sind wissenschaftlich fundiert und klar definiert.
Ein ähnliches Verfahren wendet seit Anfang Jahr die Spitalseelsorge im Universitätsspital Basel (USB) an: «Wir arbeiten neu nach einem Set von Indikationen», erzählt Pfarrer Matthias Wetter, Evangelisch-reformierter Spitalseelsorger am USB. Das Indikationen-Set begründet, wann ein Besuch der Seelsorger angemessen oder notwendig ist. Anders als in der Medizin beinhaltet das Set keine körperlichen Symptome. Es umfasst vier Ebenen: Sinn, Transzendenz, Identität und Werte.
Auf der Sinnebene geht es um Sinn- und Schicksalsfragen, um Trauer und Verzweiflung. «Wenn man länger im Spital ist, fällt einem irgendwann die Decke auf den Kopf: Man beginnt zu hadern, fühlt sich ohnmächtig und fragt nach dem Sinn der Krankheit», erzählt Wetter. «Wenn jemand lange im Spital liegt, kommt es unweigerlich zu Enttäuschungen, zum Beispiel weil Therapien nicht funktionieren wie erwünscht. Das kann sehr belastend sein, nicht nur für die Patientinnen und Patienten, sondern auch für Angehörige.»
Auf der Transzendenzebene geht es um Ungewissheit und Glaube, um Rückzug und Einsamkeit. «Viele Menschen sehen sich im Spital mit Ängsten und Hoffnungslosigkeit auch in Bezug auf den Glauben konfrontiert», sagt Wetter. «Das kann verbunden sein mit Wut und Verbitterung. Da stellen sich religiöse Bedürfnisse im Glauben, nach einer Sprache, die man kennt». Das könne ein vertrautes Ritual sein, etwa das Anzünden einer Kerze, ein Gebet, ein Gottesdienstbesuch oder ein seelsorgerliches Gespräch.
Auf der Identitätsebene geht es um Scham- und Schuldgefühle, um Identitätskonflikt und Kontrollverlust. Das könne sich aus der Biografie ergeben, etwa aufgrund von traumatischen Erfahrungen oder Einschnitten im Leben. «Dann kreisen die Gedanken um Unerklärtes und Unerreichtes, die als Ursache für die jetzige Situation interpretiert werden», erklärt Wetter. Ein solcher Kontrollverlust im Spital könne auch zu Schuldgefühlen führen.
Auf der Werteebene geht es im Spital um ethische Konflikte, die sich etwa ergeben, wenn bei Patienten oder Angehörigen Fragen zur Versorgung und Behandlung auftauchen. «Das können Fragen von Patientinnen und Patienten sein, aber auch von Angehörigen, die vor Entscheidungen stehen, etwa das Abschalten von lebenserhaltenden Massnahmen auf der Intensivstation», erklärt Matthias Wetter. «Das sind schwierige Entscheide, weil moralische Vorstellungen in Konflikt geraten.»
Zwängt die Orientierung nach Indikationen die Spitalseelsorge in ein Korsett? «Im Gegenteil» findet Matthias Wetter. «Es hilft uns, unser Hinhören für die Anliegen der Menschen zu schärfen und im ökumenischen Seelsorgeteam eine gemeinsame Sprache zu finden, auch ist es ein Hilfsmittel, unsere Arbeit spitalintern wie auch -extern zu erklären.» Zudem helfe das Indikationenset den Gesundheitsfachpersonen zu unterscheiden, wann sie eine Seelsorgerin und wann eher einen Psychiater rufen müssen.
Der grösste Unterschied ist dabei sicher, dass die Seelsorgerinnen in ihrem Tun eine Heilung oder Verbesserung des Gesundheitszustands nicht als primären Zweck ansehen. «Da sein, präsent sein, im Moment gewahr sein. Das ist das wunderbarste Geschenk, dass wir machen können.», betont Wetter. «Uns geht es darum, Spiritualität im Spitalalltag als Ressource zu begreifen.» Es sei wichtig, dass die Seelsorger unabhängig von allen medizinischen Aspekten, die «selbstverständlich dazugehören und wichtig sind, Zeit haben und Raum schaffen für das, was in dem Moment wichtig ist». Er selbst sei zwar Teil des Universitätsspitals: «Ich bin entsprechend gekleidet, ich habe Zugang und einen Batch, aber ich muss nicht mit einer Krankenkasse abrechnen, ich muss keine Tage und Stunden zählen».
Haben die Seelsorgerinnen denn Zeit? Wetter seufzt: «Ich arbeite 50 Prozent und bin für gut 120 Betten zuständig. Auch meine Zeit ist beschränkt.» Gerade deshalb sei er angewiesen auf die gute interdisziplinäre Zusammenarbeit, «dass wir vom Pflegepersonal und von anderen Professionen erfahren, wen wir besuchen sollen». Die Trefferquote der Pflege sei «auch dank des Indikationensets top. Es ist zentral, dass wir da Zeit haben, wo Zeit zu schenken wichtig ist.»
Und dann kommt ein weiterer Unterschied zur Psychiatrie dazu: «Ich habe als Seelsorger nicht nur Gespräche mit Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen, sondern auch mit dem Personal», sagt Matthias Wetter. Es sei immer wieder sehr wichtig, auch für die Pflegefachpersonen, die Ärzteschaft und für andere Angestellte Zeit zu haben und da zu sein. Als Seelsorger, aber auch als Fachmann für ethische Fragen: «Wir sind als Seelsorgerinnen eingebunden in Ethikkonzilen und in Palliativbesprechungen. Wir Seelsorger bringen im Rahmen des Spitals die spirituelle Perspektive ein, weil sie integraler Bestandteil des Mensch-Seins ist.»
Matthias Wetter
Der Evangelisch-reformierte Pfarrer ist 36 Jahre alt. Er arbeitet mit einem 50%-Pensum als Spitalseelsorger im Universitätsspital. Ursprünglich ist er Chemielaborant. Seine Leidenschaft gilt dem Kaffee: Mit «Holy Bean» hat er ein Kaffeelabel für Kirchen kreiert, – ein Kaffee, der fair produziert wird und den Ansprüchen jedes Feinschmeckers genügt. «Kirche ist Begegnung», sagt Wetter. Zum Beispiel beim Kirchenkaffee.
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Ein ähnliches Verfahren wendet seit Anfang Jahr die Spitalseelsorge im Universitätsspital Basel (USB) an: «Wir arbeiten neu nach einem Set von Indikationen», erzählt Pfarrer Matthias Wetter, Evangelisch-reformierter Spitalseelsorger am USB. Das Indikationen-Set begründet, wann ein Besuch der Seelsorger angemessen oder notwendig ist. Anders als in der Medizin beinhaltet das Set keine körperlichen Symptome. Es umfasst vier Ebenen: Sinn, Transzendenz, Identität und Werte.
Auf der Sinnebene geht es um Sinn- und Schicksalsfragen, um Trauer und Verzweiflung. «Wenn man länger im Spital ist, fällt einem irgendwann die Decke auf den Kopf: Man beginnt zu hadern, fühlt sich ohnmächtig und fragt nach dem Sinn der Krankheit», erzählt Wetter. «Wenn jemand lange im Spital liegt, kommt es unweigerlich zu Enttäuschungen, zum Beispiel weil Therapien nicht funktionieren wie erwünscht. Das kann sehr belastend sein, nicht nur für die Patientinnen und Patienten, sondern auch für Angehörige.»
Auf der Transzendenzebene geht es um Ungewissheit und Glaube, um Rückzug und Einsamkeit. «Viele Menschen sehen sich im Spital mit Ängsten und Hoffnungslosigkeit auch in Bezug auf den Glauben konfrontiert», sagt Wetter. «Das kann verbunden sein mit Wut und Verbitterung. Da stellen sich religiöse Bedürfnisse im Glauben, nach einer Sprache, die man kennt». Das könne ein vertrautes Ritual sein, etwa das Anzünden einer Kerze, ein Gebet, ein Gottesdienstbesuch oder ein seelsorgerliches Gespräch.
Auf der Identitätsebene geht es um Scham- und Schuldgefühle, um Identitätskonflikt und Kontrollverlust. Das könne sich aus der Biografie ergeben, etwa aufgrund von traumatischen Erfahrungen oder Einschnitten im Leben. «Dann kreisen die Gedanken um Unerklärtes und Unerreichtes, die als Ursache für die jetzige Situation interpretiert werden», erklärt Wetter. Ein solcher Kontrollverlust im Spital könne auch zu Schuldgefühlen führen.
Auf der Werteebene geht es im Spital um ethische Konflikte, die sich etwa ergeben, wenn bei Patienten oder Angehörigen Fragen zur Versorgung und Behandlung auftauchen. «Das können Fragen von Patientinnen und Patienten sein, aber auch von Angehörigen, die vor Entscheidungen stehen, etwa das Abschalten von lebenserhaltenden Massnahmen auf der Intensivstation», erklärt Matthias Wetter. «Das sind schwierige Entscheide, weil moralische Vorstellungen in Konflikt geraten.»
Zwängt die Orientierung nach Indikationen die Spitalseelsorge in ein Korsett? «Im Gegenteil» findet Matthias Wetter. «Es hilft uns, unser Hinhören für die Anliegen der Menschen zu schärfen und im ökumenischen Seelsorgeteam eine gemeinsame Sprache zu finden, auch ist es ein Hilfsmittel, unsere Arbeit spitalintern wie auch -extern zu erklären.» Zudem helfe das Indikationenset den Gesundheitsfachpersonen zu unterscheiden, wann sie eine Seelsorgerin und wann eher einen Psychiater rufen müssen.
Der grösste Unterschied ist dabei sicher, dass die Seelsorgerinnen in ihrem Tun eine Heilung oder Verbesserung des Gesundheitszustands nicht als primären Zweck ansehen. «Da sein, präsent sein, im Moment gewahr sein. Das ist das wunderbarste Geschenk, dass wir machen können.», betont Wetter. «Uns geht es darum, Spiritualität im Spitalalltag als Ressource zu begreifen.» Es sei wichtig, dass die Seelsorger unabhängig von allen medizinischen Aspekten, die «selbstverständlich dazugehören und wichtig sind, Zeit haben und Raum schaffen für das, was in dem Moment wichtig ist». Er selbst sei zwar Teil des Universitätsspitals: «Ich bin entsprechend gekleidet, ich habe Zugang und einen Batch, aber ich muss nicht mit einer Krankenkasse abrechnen, ich muss keine Tage und Stunden zählen».
Haben die Seelsorgerinnen denn Zeit? Wetter seufzt: «Ich arbeite 50 Prozent und bin für gut 120 Betten zuständig. Auch meine Zeit ist beschränkt.» Gerade deshalb sei er angewiesen auf die gute interdisziplinäre Zusammenarbeit, «dass wir vom Pflegepersonal und von anderen Professionen erfahren, wen wir besuchen sollen». Die Trefferquote der Pflege sei «auch dank des Indikationensets top. Es ist zentral, dass wir da Zeit haben, wo Zeit zu schenken wichtig ist.»
Und dann kommt ein weiterer Unterschied zur Psychiatrie dazu: «Ich habe als Seelsorger nicht nur Gespräche mit Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen, sondern auch mit dem Personal», sagt Matthias Wetter. Es sei immer wieder sehr wichtig, auch für die Pflegefachpersonen, die Ärzteschaft und für andere Angestellte Zeit zu haben und da zu sein. Als Seelsorger, aber auch als Fachmann für ethische Fragen: «Wir sind als Seelsorgerinnen eingebunden in Ethikkonzilen und in Palliativbesprechungen. Wir Seelsorger bringen im Rahmen des Spitals die spirituelle Perspektive ein, weil sie integraler Bestandteil des Mensch-Seins ist.»
Matthias Wetter
Der Evangelisch-reformierte Pfarrer ist 36 Jahre alt. Er arbeitet mit einem 50%-Pensum als Spitalseelsorger im Universitätsspital. Ursprünglich ist er Chemielaborant. Seine Leidenschaft gilt dem Kaffee: Mit «Holy Bean» hat er ein Kaffeelabel für Kirchen kreiert, – ein Kaffee, der fair produziert wird und den Ansprüchen jedes Feinschmeckers genügt. «Kirche ist Begegnung», sagt Wetter. Zum Beispiel beim Kirchenkaffee.
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